Definition
Die Polymyalgia rheumatica (PMR) ist ein ätiologisch unklares Krankheitsbild älterer Menschen, charakterisiert durch Schmerzen und Steifheit mit
Bewegungseinschränkungen muskulären Ursprungs im Bereiche des Nackens und bilateral von Schulter- und/oder Beckengürtel verbunden mit beeinträchtigtem
Allgemeinzustand, Gewichtsverlust, subfebrilen Temperaturen und dem Nachweis von Entzündungsparametern. Es besteht ein dramatisches Ansprechen auf eine
Glukocorticoidmedikation.
Diagnosekriterien
Bisher existieren keine international anerkannten diagnostischen Kriterien. Aus einer in England durchgeführten multizentrischen Studie wurde eine Rangfolge von 7
Diagnosekriterien abgeleitet, aus der sich im Vergleich mit PMR-ähnlichen Krankheitsbildern die höchste Sensibilität und Spezifität für die PMR ergab (1).
- Beidseitige Schulterschmerzen und/oder beidseitige Steifigkeit (alternativ auch Schmerzen in folgenden Regionen: Nacken, Oberarme, Gesäß,
Oberschenkel)
- Akuter Krankheitsbeginn (innerhalb von 2 Wochen)
- Initiale BSG-Beschleunigung von über 40 mm in der ersten Stunde
- Morgendliche Steifigkeit von mehr als einer Stunde
- Alter über 65 Jahre
- Depression und/oder Gewichtsverlust
- Beidseitiger Oberarmdruckschmerz
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Der Schulterschmerz ist der beste Diskriminator gegenüber PMR-ähnlichen Symptomen. Eine wahrscheinliche PMR wird angenommen, wenn drei Kriterien
positiv sind oder ein Kriterium zusammen mit einer Temporalarteriitis auftritt.
Zusätzliche Symptome und Befunde
Frauen sind zwei- bis dreimal häufiger als Männer von einer PMR betroffen. Der Krankheitsbeginn liegt in der Regel jenseits des 50. Lebensjahres.
- Allgemeinsymptome: Sie sind sehr vieldeutig und bestehen in Abgeschlagenheit, Gewichtsabnahme, Appetitlosigkeit, subfebrilen Temperaturen und/oder
psychischen Veränderungen.
- Untersuchungsbefund: Es findet sich eine schmerzhaft eingeschränkte aktive Beweglichkeit der betroffenen Regionen und gelegentlich eine
druckschmerzhafte Muskulatur, jedoch ohne Muskelschwäche und Atrophie.
- Gelenkveränderungen: Flüchtige, meist oligoartikuläre Synovialitiden (z. B. der Hand-, Knie- und Sternoklavikulargelenke) können bei 15 bis 50 % der
Patienten auftreten und zwingen zum Ausschluß einer Altersform der Rheumatoiden Arthritis.
- Kopfschmerzen sind als Leitsymptom einer Temporalarteriitis zu beachten.
- Augensymptome: Plötzliche Visusverschlechterung, Doppelbilder (Temporalarteriitis).
- Histologie: Bei Biopsie der A. temporalis findet sich in bis zu 80 % gleichzeitig eine Riesenzellarteriitis. Ein negatives bioptisches Ergebnis schließt aber eine
PMR nicht aus (segmentaler, multilokulärer Gefäßbefall). Muskelbiopsien fallen normal aus.
- Elektromyografie: Typischerweise findet sich ebenfalls ein Normalbefund, was ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur Polymyositis darstellt.
- Labormedizin: Spezifische Veränderungen fehlen. Typisch sind jedoch meist ausgeprägte Akute-Phase-Veränderungen: Die BSG ist fast immer deutlich
beschleunigt. Alpha-1 und Alpha-2 Globuline im Serum sowie das CRP sind erhöht. Charakteristischerweise sind die Muskelenzyme im Serum (CK,
GOT) normal.
Differentialdiagnose
Das polymyalgische Beschwerdebild läßt an eine große Zahl unterschiedlicher Krankheitsbilder denken, deren Leitbefunde sich aus der Tabelle ergeben. Bei
fehlenden Hinweisen auf eine infektiöse (z. B. subakute Endokarditis) oder neoplastische Erkrankung kann ein promptes Ansprechen auf eine
Glukocorticoidmedikation diagnoseweisend sein. Bei einer zusätzlichen histologisch nachgewiesenen Temporalarteriitis gilt die Diagnose einer PMR als gesichert.
Tabelle 1 Wichtige Differentialdiagnosen der Polymyalgia rheumatica
Erkrankung |
Unterscheidungskriterien |
Alters-RA |
chronisch-symmetrische Synovialitiden
chronisch-erosive Gelenkveränderungen
Rheumafaktor-Nachweis |
Fibromyalgie |
fehlende systemische Entzündungszeichen
klinischer Nachweis typischer Druckpunkte |
Para- oder postinfektiöse Myalgien |
flüchtige Myalgien (Virusinfekte)
Virustiter (z.B. Influenza, Röteln, Hepatitis)
Bakterienserologie (z.B. Gruber-Widal,
Lyme Borreliose, AST, Chlamydien) |
Bakterielle Endokarditis |
Blutkulturen, Echokardiogramm |
Paraneoplastische Syndrome |
Tumornachweis
evtl. Glucocorticoidversuch |
Polymyositis |
Muskelschwäche stärker als Myalgien ausgeprägt
Muskelenzyme (CK, GOT) erhöht
Elektromyogramm pathologisch
Muskelbiopsie diagnoseweisend |
Kollagenosen (SLE) |
Autoantikörper (ANA) positiv
Komplementstatus verändert
Multiorganbefall (Haut, Nieren, Lunge, ZNS) |
Systemische Vaskulitiden |
Autoantikörper (z.B. ANCA) positiv
Kryoglobuline, Komplement-Verminderung
Multiorganbefall
Haut-, Muskelbiopsie |
Plasmozytom |
Immunelektrophorese, Bence-Jones-
Proteine, Beckenkammbiopsie, röntgenologische
Skelettveränderungen |
Schilddrüsenerkrankungen |
T3, T4, TSH, Schilddrüsen- Autoantikörper |
Literatur
- Bird HA, Esselinckx W, Dixon AS, Mowat AG, Wood PNH (1979) An evaluation of criteria for polymyalgia rheumatica. Ann Rheum Dis 38: 434 - 439
- Gerber N (1978) Polymyalgia rheumatica. Ein Teilaspekt der Riesenzellarteriitis. Erg Inn Med Kinderheilk 40: 85 - 149
- Kaiser H (1987) Polymyalgia rheumatica - eine immer noch zu wenig bekannte Krankheit. Internist Welt 1: 13 - 23
- Schmidt D (1995) Arteriitis temporalis Horton. Diagnose, Differentialdiagnose, Therapie. Elephas, St. Gallen
- Vaith P, Hänsch GM, Peter HH (1988) C-reactive protein-mediated complement activation in polymyalgia rheumatica and other systemic inflammatory
diseases. Rheumatol Int 8: 71 - 80