3.31 Rückenschmerzsyndrome

Definition und Diagnostische Kriterien

Spontane und/oder provozierte Schmerzen in der Rückenregion.
Diagnostische Kriterien im engeren Sinne existieren nicht.
Probleme bestehen sowohl in der Definition der Begriffe "Rücken" wie auch von "Schmerzen".
Aus anatomischer Sicht umfaßt das dorsum mit zahlreichen regiones die gesamte Länge der hinteren Rumpffläche. Im englischen Sprachgebrauch wird unter dem "tiefen" Rücken (low back) die Region zwischen den Unterrändern der 12. Rippen und den Glutealfalten verstanden. Keine der anatomischen oder klinischen Definitionen wird von medizinischen Laien zuverlässig geteilt.
Ärzte und Patienten müssen sich jeweils darüber verständigen, wo der Rücken eines Patienten liegt. Hierzu sind vorgegebene Bilder der ärztlichen "region of interest" oder spontane Schmerzzeichnungen der Patienten hilfreich (Abbildungen 1, 2).

Abb. 1. Eine "region of interest"- Zeichnung des tiefen Rückens
 
 

Abb. 2. Eine Vorlage zu einer freien Schmerzzeichnung

In ihrem unteren Intensitätsbereich kann die Abgrenzung von Schmerzen gegenüber anderen Beschwerden (z.B. Steifigkeitsgefühl) Schwierigkeiten machen. Schmerzen werden nach der International Association of the Study of Pain (IASP) definiert als ein "unerfreuliches sensorisches und emotionales Erlebnis, das mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung verbunden ist oder in entsprechenden Termini beschrieben wird".
Einerseits müssen Rückenschmerzen (RS) als Symptom einer unter der Oberfläche liegenden Störung oder Krankheit aufgefaßt und abgeklärt werden - s.u. "spezifische RS" (2). Dazu gehören auch extravertebrale Erkrankungen, die in den Rücken projizierte Schmerzen verursachen können.
Allerdings läßt sich in der Mehrzahl der sich dem Primärarzt präsentierenden Fälle weder eine nosologische Diagnose stellen noch ein wesentlicher Pathomechanismus (Entzündung, Infiltration u.a.) oder die imitierte Struktur (Diskus, Muskulatur, Facettengelenk, Nervenwurzel u.a.) angeben. Die RS werden dann als "unspezifisch" oder "idiopathisch" bezeichnet.
Andererseits müssen sie als eigenständiges Syndrom beschrieben und bewertet werden. Hierbei ist das Konzept der "erweiterten"/"augmented" RS hilfreich (3).

Spezifische Rückenschmerzen

Spezifische RS lassen sich auf eine definierte Krankheit, einen Pathomechanismus oder wenigstens eine imitierte Struktur zurückführen, sind als z.B. diskogen, arthrogen, neurogen einzuordnen. Die im Einzelfall in Betracht kommenden zugrundeliegenden Störungen sind zu zahlreich, um hier auch nur aufgezählt werden zu können.

Warnsignale für möglicherweise gefährliche Erkrankungen

Röntgenaufnahmen

Diese bedürfen eines besonderen Kommentars. Nach den Leitlinien des Royal College of Radiologists (London 1993) sind Standardaufnahmen der BWS/ LWS in einer oder zwei Ebenen routinemäßig weder bei akuten noch bei chronischen RS indiziert. In weniger als 1 ‰ der Fälle sind klinisch relevante Befunde zu erwarten (1). Die physischen, psychischen und verhaltensmäßigen Nebenwirkungen von unkritisch verordneten Untersuchungen sind beträchtlich (u.a. somatische Fixierung von Patient und Arzt). Wirbelsäulenaufnahmen sind eine der Hauptquellen iatrogener ionisierender Strahlung.
Daher sind sie bei akuten RS erst nach vier- bis achtwöchiger Persistenz, bei Vorliegen der o.g. Warnsignale aber selbstverständlich sofort angezeigt. Verlaufsröntgenaufnahmen bei chronischen RS sollten dann durchgeführt werden, wenn die Beschwerden zunehmen, sich der Schmerzcharakter ändert oder sich Zusatzsymptome (z.B. Hinweise auf extravertebrale Erkrankungen) ergeben.
Die konventionelle Skelettszintigraphie und/oder ein modernes Schnittbildverfahren wie die Computertomographie oder Kernspintomographie sind wenigstens dann zu fordern, wenn bei unauffälligen Standardröntgenaufnahmen der BWS/LWS der dringende Verdacht auf eine maligne Erkrankung oder bakterielle Infektion fortbesteht.

Laboruntersuchungen

Auch solche unspezifischen Suchtests wie BSG, Blutbild, Elektrophorese sind ohne die o.g. Warnsignale erst nach vier bis acht Wochen indiziert. Wenige Autoren empfehlen eine BSG oder das CRP schon für die Erstuntersuchung.

Notfälle

Ein dringliches, sofortiges Handeln erfordern alle Verdachtsfälle auf Cauda equina-Syndrom, bakterielle Spondylodiszitis, maligne Infiltration der Wirbelsäule sowie akuten und symptomatischen Wirbelkörperzusammenbruch bei Osteoporose (5).

Unspezifische Rückenschmerzen als Syndrom

Bei unspezifischen Rückenschmerzen sind zu erfassen: RS gehen fast immer mit einer Reihe weiterer Schmerzen, Beschwerden und Symptomen einher. Zu ihnen gehören vorzugsweise: Je mehr dieser Dimensionen durch Befunde besetzt und je stärker sie ausgeprägt sind, desto erweiterter, chronifizierter und prognostisch ungünstiger sind die unspezifischen RS. Um so dringlicher wird auch die Konsultation von psychologisch oder psychotherapeutisch Ausgebildeten.

Literatur

  1. Bigos S, Bowyer 0, Braen G, et al (1994) Acute Low Back Problems in Adults. Clinical Practice Guideline No. 14. AHCPR Publication No. 950642. Rockville, MD: Agency for Health Care Policy and Research, Public Health Service, U.S. Department of Health and Human Services
  2. Man W, Mahrenholtz M, Zeidler H (1994) Kreuzschmerzen - Diagnostik aus internistischer Sicht. Deutsches Ärzteblatt 91: C-441-c-452
  3. Raspe H (In press) A data base for back (axial skeletal) pain. Rheum Dis Clinics North America
  4. Waddell G, McCulloch JA, Kummel ED, Venner RM (1980) Nonorganic physical signs in low back pain. Spine 5: 117 - 125
  5. Wörz P, Bandilla K, Conradi E, Raspe H, Schwerdtner HP, Stroehmann I, Thoden U, Wehling P (1994) Leitlinien zur Diagnostik von Rückenschmerzen. Münch Med Wschr 136: 252 - 255
  6. Verbindung der Schweizer Ärzte - FMH (Hrsg) (1997, 1998) Kreuzschmerzen: Empfehlungen für Abklärung und Behandlung; Algorithmen 1 bis 4. Kreuzschmerzen: Hintergründe, Prävention, Behandlung; Basisdokumentation. Hertig & Co AG, Biel, CH