3.32 Fibromyalgiesyndrom

Synonyma

Fibromyalgie, generalisierte Fibromyalgie, generalisierte Tendomyopathie (obsolet ist "Fibrositis")

Definition

Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) gehört zum weiten und heterogenen Spektrum der weichteilrheumatischen Störungen und Krankheiten (engl.: extraarticular or soft-tissue rheumatism). Sie ist anamnestisch gekennzeichnet durch chronisch-polytope Schmerzen im Bereich der Bewegungsorgane und klinisch durch eine generell erniedrigte Schmerzschwelle (sekundäre Hyperalgesie; erhöhte Druckschmerzhaftigkeit), überprüfbar an einer Vielzahl anatomisch definierter Schmerzpunkte ("tender points"). Assoziiert sind vegetative Funktionsstörungen, Schlafstörungen, Erschöpfungszustände und psychische Auffälligkeiten.

Klassifikationskriterien

Beim FMS stellen umschriebene Druckschmerzen ein wesentliches Kriterium für die Diagnose dar. Über Anzahl und Lokalisation dieser Punkte als diagnostisches Kriterium konnte noch keine endgültige Einigung erzielt werden.
 
Klassifikationskriterien des ACR (4) 
  • Anamnese generalisierter Schmerzen 
Definition: Schmerz mit der Lokalisation linke und rechte Körperhälfte, Ober- und Unterkörper und im Bereich des Achsenskelettes (Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule oder tiefsitzender Kreuzschmerz) werden als generalisiert bezeichnet. 
Bei dieser Definition wird der Schulter- und Beckengürtelschmerz als Schmerz der jeweiligen Körperhälfte betrachtet. 
  • Schmerzen an 11 von 18 definierten "tender points" auf Fingerdruck 
Definition: Bei digitaler Palpation muß Schmerz in mindestens 11 von 18 der folgenden "tender points" (9 auf jeder Körperhälfte) vorhanden sein: 
1 - Ansätze der suboccipitalen Muskeln 
2 - Querfortsätze der Halswirbelsäule C5 bis C7 
3 - M. trapezius (Mittelpunkt der Achsel) 
4 - Supraspinatus 
5 - Knochen-Knorpel-Grenze der 2. Rippe 
6 - Epicondylus radialis (2 cm distal) 
7 - Regio glutaea (oberer äußerer Quadrant) 
8 - Trochanter major 
9 - Fettpolster des Kniegelenkes medial proximal der Gelenklinie.
Bewertung: Für die Klassifikation einer Fibromyalgie müssen beide Kriterien erfüllt sein. Der Nachweis einer weiteren klinischen Erkrankung darf die Diagnose einer Fibromyalgie nicht ausschließen.
 
Diagnostische Kriterien nach Müller und Lautenschläger (3) 
  • Spontane Schmerzen in der Muskulatur, im Verlauf von Sehnen und Sehnenansätzen mit typischer stammnaher Lokalisation, die über mindestens 3 Monate in 3 verschiedenen Regionen vorhanden sind 
  • Druckschmerzhaftigkeit an mindestens der Hälfte der typischen Schmerzpunkte (Druckdolorimetrie oder digitale Palpation mit ca. 4 kp/cm², sichtbare Schmerzreaktion) 
  • Kontrollpunkte ohne solche Schmerzreaktion 
  • Begleitende vegetative und funktionelle Symptome inkl. Schlafstörungen 
  • Psychopathologische Befunde (seelische und Verhaltens-Auffälligkeiten) 
  • Normale Befunde der gängigen Laboruntersuchungen. 
 
Bewertung: Für die Diagnose des FMS sollen mindestens je 3 der folgenden vegetativen Symptome und funktionellen Störungen nachweisbar sein:

Vegetative Symptome
- kalte Akren (Hände)
- trockener Mund
- Hyperhidrosis (Hände)
- Dermographismus
- orthostatische Beschwerden (lage- und lagewechselabhängiger Schwindel)
- respiratorische Arrhythmie
- Tremor (Hände)
 
Funktionelle Störungen
- Schlafstörungen
- gastrointestinale Beschwerden (Obstipation, Diarrhoe)
- Globusgefühl
- funktionelle Atembeschwerden
- Par- (Dys-) ästhesien
- funktionelle kardiale Beschwerden
- Dysurie und/oder Dysmenorrhoe
 

Differentialdiagnose

Abzugrenzen sind vor allem entzündliche Muskelerkrankungen (siehe Kapitel 3.11), endokrinologisch-metabolisch und medikamentös-toxisch bedingte Myopathien, Myalgien im Rahmen eines Parkinson- und paraneoplastischen Syndroms sowie bei Virusinfekten und Osteoporose, die Prodromalstadien der Kollagenosen, schließlich das chronische Müdigkeitssyndrom (3). Zum Ausschluß einer larvierten Depression bzw. des sog. psychogenen Rheumatismus kann eine psychiatrische oder psychosomatisch-psychologische Zusatzuntersuchung erforderlich werden. Für die Abgrenzung von "benachbarten" Erkrankungen (Periarthropathie, Tendomyosen, chronisches benignes Schmerzsyndrom) ist die Untersuchung von Kontrollpunkten (z. B. Hypothenarmuskulatur, Fingermittelphalanx dorsovolar) hilfreich. Das Krankheitsbild kann konkomitant zu anderen Erkrankungen auftreten, die Trennung in eine primäre und sekundäre Form wird heute aber überwiegend abgelehnt.
 

Literatur

  1. Brückle W, Müller W (1991) Schmerzverlauf und -topographie bei der Generalisierten Tendomyopathie. Z Rheumatol 50: 19 - 21
  2. Häntzschel H, Gruber G (1991) Weichteilrheumatismus unter besonderer Berücksichtigung der Generalisierten Tendomyopathie als funktionelles Syndrom. Z ärztl Fortbildung 85: 417 - 420
  3. Müller B (1990) Die Differentialdiagnose der generalisierten Tendomyopathie. In. Müller W (Hrsg) Generalisierte Tendomyopathie (Fibromyalgie). Steinkopff, Darmstadt
  4. Müller W, Lautenschläger 1 (1990) Die Generalisierte Tendomyopathie (GTM) -Teil 1: Klinik, Verlauf und Differentialdiagnose. Z Rheumatol 49: 11 - 21
  5. Wolfe F, Smythe H, Yunus MB, Bennet RM, Bombardier C, Goldenberg DL, Tugwell P, Campbell SM, Abeles M, Clark P (1990) The American Coilege of Rheumatology 1990 criteria for the classification of fibromyalgia: Report of a multicenter criteria committee. Arthr Rheum 33: 160 - 172